Fast jeden Sonntag ist ein Newsletter über Medizinisches, Feministisches und Politisches mit einer gelegentlichen Prise Literatur. Zurzeit erscheint er ein- bis zweimal im Monat. Viel Spaß beim Lesen!
Meine Achillessehne und Handgelenke schmerzen, aber bisher gibt es keine Erklärung dafür. Doch die Symptome können behandelt werden; dank Ergotherapie, Bandagen, Medikamenten, Psychotherapie für die psychosomatischen Aspekte und kleinen Hilfsmitteln bin ich so gut wie geheilt.
Meine Achillessehne und Handgelenke schmerzen, aber bisher gibt es keine Erklärung dafür. Jeder Tag ist anders, ich verstehe meinen Körper nicht mehr, die Beschwerden sind mal so, mal so, folgen keiner erkennbaren Logik, ich kann mich auf nichts verlassen. Ich kann nicht mal einkaufen gehen, selbst die Runde durch den Supermarkt ist zu lang, ich bin an mein WG-Zimmer gefesselt, kann nicht schreiben, weil meine Handgelenke weh tun, wie soll ich so als Ärztin arbeiten, wie kann ich mich Autorin nennen, wieso denke ich über Kinder nach, ich könnte mein Baby nicht mal hochheben, das ist doch lächerlich, wird das jemals aufhören, vielleicht sollte ich einfach hier liegen bleiben, für immer, und dann …
Meine Achillessehne und Handgelenke schmerzen, aber bisher gibt es keine Erklärung dafür, obwohl ich von Ärzt*in zu Ärzt*in gerannt bin und eine Untersuchung auf die andere folgte. Trotzdem habe ich dadurch viel gelernt: Ich bin eine empathischere Ärztin geworden. Weil ich nicht mehr täglich ins Fitnessstudio gehen konnte, habe ich begonnen, regelmäßig zu schreiben und mich politisch zu engagieren. Ohne meine gesundheitlichen Einschränkungen gäbe es diesen Newsletter nicht. Diese Erkrankung, wie auch immer sie heißen mag, hat mich zu einem anderen Menschen gemacht.
Ich kann meine Krankheitsgeschichte auf verschiedene Weise erzählen und so Beispiele für verschiedene Krankheitsnarrative konstruieren. Diese Narrative beschreibt der Soziologe Arthur W. Frank in seinem Buch The Wounded Storyteller und teilt sie in drei Typen ein: Das Wiederherstellungsnarrativ, das Chaosnarrativ und das Narrativ der Suche.
Das Wiederherstellungsnarrativ ist uns am vertrautesten und angenehmsten, denn es beschreibt den Lieblings-Spannungsbogen der Medizin: Erkrankung —> Diagnose —> Therapie —> Heilung. Ärzt*innen sind Held*innen, Patient*innen das Objekt, an dem die moderne Medizin ihr Können beweist (die Selbstheilungskräfte des Körpers werden in dieser Version gern vergessen).
Über das Narrativ der Suche nach dem Sinn der Erkrankung, ihrem Grund und der (positiven) Lebensveränderung trotz oder sogar durch den Schicksalsschlag gibt es unzählige Filme und Bücher. Von der Krankheit geläuterte Patient*innen sind fast schon zum Klischee geworden. Hier sind sie Held*innen ihrer eigenen Geschichten und behalten die Handlungsfähigkeit. Die Erkrankung wird eine Herausforderung; die Geschichte ist eine des Wachstums.
Das Chaosnarrativ hingegen ist ein Antinarrativ: Es herrscht eine solche Sprachlosigkeit angesichts der chaotischen Zustände im Körper, dass keine erkennbare Geschichte erzählt werden kann. Es gibt keinen Spannungsbogen, keine Struktur, sondern nur „und dann, und dann, und dann“. Zuhören fällt schwer, weil wir selten mit solchen Anti-Geschichten konfrontiert werden, weil dieses Chaos so schwer erträglich ist, selbst wenn wir es nicht selbst erleben.
Diese Narrativtypen sind auch kulturell betrachtet relevant, denn in Büchern, Filmen etc. begegnen uns fast nur Geschichten im Wiederherstellungs- und Suchstil. Natürlich – diese lassen sich besser erzählen als das Chaos. Doch deswegen sieht Krankheit im echten Leben so anders aus als bei Grey’s Anatomy oder im Bücherregal. Die Popkultur ignoriert diejenigen, die im Chaos ertrinken und am dringendsten Hilfe brauchen. Gerade sie können ihre Bedürfnisse oft nicht artikulieren.
Auch im Gesundheitswesen ist das ein Problem: Wer Hilfe sucht, steckt mitten im Chaos. Ärzt*innen hingegen wollen Held*innen des Wiederherstellungsnarrativs sein – dazu müssen Patient*innen uns mit ihrer Geschichte einen griffigen Einstieg liefern. Dann können wir das Chaos entwirren und in heilende Bahnen lenken. Doch dafür ist nicht immer ausreichend Zeit (oder Geduld) vorhanden. So fahren diejenigen am besten, die ihre Geschichte am schlüssigsten und kompaktesten präsentieren können – doch die sind oft die Gesündesten oder haben ein klar umschriebenes Problem („Ich habe mich bei meinem*r Partner*in angesteckt und huste jetzt“).
Das ist auch vom Fachgebiet abhängig. Zurzeit arbeite ich in einer Unfallpraxis und produziere im Viertelstundentakt Wiederherstellungsnarrative: Die Hand/der Arm/der Fuß schmerzt, ich drücke drauf, mache einen Ultraschall und ein Röntgenbild, dann sage ich: „Es ist nur eine Prellung“ oder „Es ist gebrochen.“ Danach legt meine Kollegin einen Gips an, im Verlauf gibt es eine Kontrolle, vier bis sechs Wochen später nehmen wir den Gips ab und sagen: „Sie sind geheilt.“ Komplexere Fälle gibt es natürlich auch, aber die einfachen Wiederherstellungsfälle überwiegen.
In der hausärztlichen Praxis ist die Situation häufig komplizierter. Beschwerden haben seltener klare Auslöser wie einen Sturz. Ohne eindeutigen Ausgangspunkt wird die Erzählung unscharf: „Seit zwei Monaten, nein, eigentlich seit drei … oder hat es doch schon vor Weihnachten angefangen? Ja, ich hatte manchmal abends leichtes Bauchgrummeln – habe mir erst nichts dabei gedacht, deshalb bin ich auch erst jetzt gekommen, aber dann wurde es immer schlimmer, bis vor ein paar Wochen und dann, dann musste ich ins Krankenhaus, aber da wurde ich nicht ernst genommen, naja, Blut haben sie mir abgenommen, aber die Ergebnisse habe ich nie bekommen, und dann …“
Hier müssten Ärzt*innen das Chaos entwirren, bevor sie helfen können. Doch wenn ihnen vorher der Geduldsfaden reißt oder das Notfalltelefon klingelt, werden sie ihre Patient*innen mit allgemeinen Hinweisen abspeisen. Erzählen diese ihre Geschichten hingegen in einer (scheinbar) logischen Sequenz, können Ärzt*innen ihnen länger folgen und sich mit ihren diagnostischen und therapeutischen Hypothesen zu Held*innen aufschwingen.
Wie helfen wir also denjenigen, die im Chaos zu versinken drohen?
Die wichtigste Zutat ist Zeit – Geduld ist das Gegengift zu Chaos. Dafür braucht es strukturelle Veränderungen, die geduldiges Gesundheitspersonal zum Normalfall machen – ausreichend Personal, längere Termine, gute Bezahlung für alle. Das nächste ist aktives Zuhören. Nicht sofort nachfragen, sondern einige Prisen Chaos aushalten, es sich entfalten und dabei das Gehirn mit dem Informationswust arbeiten lassen. So sammeln wir Hinweise für mögliche Diagnosen und können bessere Fragen stellen. Gleichzeitig haben Patient*innen, die ausreden durften, eher das Gefühl, gut behandelt worden zu sein.
Der nächste Lösungsvorschlag richtet sich an alle (falls ihr euch fragt, wie ihr in diesen Newsletter für Gesundheitspersonal geraten seid): Nicht allein zum Termin gehen, sondern eine Begleitperson mitnehmen, die die Geschichte kennt und dabei helfen kann, sie zu sortieren. Hier besteht allerdings die Gefahr, dass diese Person die Krankheitserzählung verzerrt oder falsche Schwerpunkte setzt. Das lässt sich vermeiden, indem sie sich vorher Zeit nimmt, um die Sachlage so gut wie möglich zu verstehen. Für die Gesunden unter euch bedeutet das, dass ihr euch aktiv als Begleitperson anbieten müsst, denn um Hilfe bitten fällt vielen schwer und ist im Chaos fast unmöglich.
Auch kulturell und medial gibt es Ansatzpunkte: Dem Chaos mehr Raum geben, z. B. mit Beschreibungen dieses Zustands oder Disclaimern in Such- und Wiederherstellungsnarrativen: „Ich kann das klar artikulieren, weil es vorbei ist, weil ich nicht mehr im Chaos-Sumpf feststecke.“ Wenn mediale Darstellungen der Realität mehr ähneln, wird der Krankheitsschock kleiner, wenn es eine*n selbst trifft – einfach weil neu Erkrankte aus Büchern, Filmen oder Serien einen Vorgeschmack haben, wie chaotisch Krankheit sein kann. Idealerweise wirft das Chaos sie dann weniger aus der Bahn – sie wissen, dass das normal ist und machen sich keine Vorwürfe, wenn sie nicht sofort elegant ins Such- oder Wiederherstellungsnarrativ rutschen. Es kann entlasten, das Chaos zu benennen – denn das impliziert eine kollektive Erfahrung, ein normales Stadium des Krankseins. Das wiederum zeigt uns, dass wir mit diesem Erlebnis nicht allein sind.
Dieses Wissen kann ein wenig Kontrolle zurückgeben. Denn dieser Aspekt unterscheidet das Chaosnarrativ von den anderen: Das Wiederherstellungsnarrativ unterliegt der Kontrolle der modernen Medizin; das Narrativ der Suche gibt uns durch eine veränderte Interpretation und Sinndefinition Kontrolle zurück. Deshalb kann Chaos als Dauerzustand auch negative Folgen haben, weil es uns das Gefühl nimmt, etwas tun zu können und so Nocebo-Effekte (das Gegenteil des Placebo-Effekts) auslöst. Insbesondere bei chronischen und/oder psychischen Erkrankungen spielt das eine Rolle, weil in diesen Fällen unsere Sicht auf und Einstellung zur Erkrankung die Lebensqualität beeinflusst.
Für mich hat das einen großen Unterschied gemacht. Wie genau ich aus dem Chaosnarrativ herausgekommen bin, kann ich nicht sagen. Vielleicht weil genug Zeit verstrichen war. Weil ich mich an die neuen oder reaktivierten Symptome gewöhnt hatte und dadurch Gehirnkapazität für Lösungen frei wurde. Doch sobald ich selbst etwas tat – die Achillessehne mit einer Faszienrolle bearbeitete, täglich Übungen für die Handgelenke machte – ging es mir besser. Das war sogar der Fall, als ich die Entscheidung traf, die Suche nach der Diagnose zu pausieren und nicht mehr zu Ärzt*innen zu gehen, sondern mich mit anderen Dingen zu beschäftigen. Ich hatte das Lenkrad wieder in der Hand und das Chaos trat in den Hintergrund. Zumindest meistens, denn unsere Krankheitserzählungen sind tagesformabhängig, gerade bei langwierigen Krankheitsverläufen: An guten Tagen erzähle ich von meiner Wiederherstellung, an weniger guten kann ich optimistisch die Suche in den Vordergrund stellen und mich daran erinnern, dass die Erkrankung mich trotz allem zu einer coolen und interessanten Person macht. An schlechten Tagen hingegen dominiert das Chaosnarrativ und ich kann mir kaum vorstellen, wie es jemals anders werden soll.
Natürlich stört die Chaos-Darstellung unseren Drang nach strukturell schönen Geschichten, nach Spannungsbögen. Das Chaosnarrativ ist schließlich das Gegenteil davon. Hättet ihr drei Seiten meines Chaosnarrativs lesen wollen oder Tagebucheinträge aus dieser Zeit? Gibt es diese überhaupt oder sortiert und eliminiert jedes Niederschreiben das Chaos? Kann der Drang, in unseren Texten, unserer Kunst die Realität darzustellen, das aufwiegen? Denn dann fänden sich nicht nur Geheilte oder an ihrer Erkrankung Gewachsene darin wieder, sondern auch die noch nicht Diagnostizerten. So könnten wir einander helfen, dem Chaos zu entkommen und miteinander über Krankheit sprechen, ohne Held*innen sein zu müssen.
Lektorat: Katharina Stein
Wie spannend, danke dir! Ich bin definitiv Typ Wiederherstellungs-Narrativ. Und erst, als ich das losgelassen habe und mich ins Chaos getraut habe, konnte ich zu meiner Ärztin gehen, ihr beschreiben, was seit wann ist und eine nebenwirkungsreiche Behandlung annehmen. Das Narrativ der Suche werde ich mir aber mitnehmen, das klingt ganz wunderschön.
So so ein toller Text, Sofia ❤️ ich glaube es ist total und hilfreich, wenn Chaos-Narrative geteilt werden - weil sonst nur das Gefühl bleibt allein zu sein. Auch so spannend deine Verknüpfung von medizinischen Behandlung und Erzählungen - bei mir hats sofort angefangen zu rattern im Kopf!