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Als Jugendliche fragte ich mich, warum meine Mutter außer drei eingetrockneten Kajalstifte keine Schminke besaß (Kontext: Kajalexzesse der Teenager zwischen 2006 und 2010). Heute langweilen meine Kajalstifte sich genauso und meine steinharte Wimperntusche wurde beim letzten Umzug entsorgt. Außerdem bevorzuge ich praktische Kleidung, koche und backe ungern, trage immer den gleichen Schmuck (meine Rebellion sind wechselnde Ohrringe) und räume herumliegende Dinge sofort weg. Ich verwandle mich offensichtlich in meine Mutter. Sollte ich neue Wimperntusche kaufen, um mir vorzugaukeln, ich sei ein eigener Mensch?
Ist „Ich werde wie meine Mutter!“ Code für Älterwerden? Schließlich sind wir jetzt beide erwachsen – dadurch wird der Vergleich erst sinnvoll: Ein vollständig von seinen Eltern abhängiges Kind mit seiner Mutter zu vergleichen, sagt uns mehr über die Beziehung der beiden und die konkrete Situation, weniger über die Persönlichkeit des Kindes. Letzteres wird erst möglich, wenn das Kind unabhängig von seinen Eltern existieren kann. Gleichzeitig bedeutet dieses Erwachsensein, dass auch Altwerden nicht mehr so unrealistisch ist wie es uns als Teenager erschien. Werden wie unsere Mütter erhöht diese Beweislast nur.
Warum sorge ich mich nicht darüber, dass ich werde wie mein Vater? Auch dafür gibt es zahlreiche Argumente: Ich werde Hausärztin, habe die Notizen für diesen Text mit Füller in ein kariertes Notizbuch geschrieben, trage Birkenstocks und Rucksack (Papa hätte nicht geglaubt, dass er mal Trendsetter wird), … Wieso würde dieser Text mit dem geschlechtsneutralen „Eltern“ nicht funktionieren? Ich habe noch nie einen Film gesehen, in dem die Protagonistin einen Nervenzusammenbruch hat, weil sie ihrem Vater oder ihren Eltern immer ähnlicher wird. Männer sind Menschen, wir können (oder sollen?) werden wie sie, darüber müssen keine Geschichten erzählt werden. Popkulturell wird nur die Verwandlung in die Mutter thematisiert und zwar in Form eines Weltuntergangs. Nur deswegen fällt diese zunehmende Ähnlichkeit mir überhaupt auf, nur deswegen schreibe ich darüber. Stattdessen könnte ich mich darüber freuen, ein gutes Vorbild gehabt zu haben und mit Mama anstoßen.
Einerseits mythologisiert das Patriarchat die Mutterfigur: Mutterschaft soll das höchste Ziel aller Menschen mit Uterus sein, erst dadurch kann unser Leben vollkommen werden (aber nur, wenn wir perfekt sind), Mütter sind das wichtigste, blablabla. Andererseits ist es eine Katastrophe, wenn wir werden wie unsere eigenen Mütter, egal wie sehr wir sie mögen. Wir sollen also Mütter werden, aber bloß nicht unsere eigenen. Hä?
Mythen funktionieren bei konkreten, lebendigen Personen nicht: So wird die Verwandlung in unsere Mutter zur Tragödie, weil unsere echten, fleischlichen Mütter im Gegensatz zur mythischen Mutter nicht perfekt sind. Nicht perfekt sein können. Und wenn wir werden wie sie – egal ob selbst Mütter oder nicht – ahnen wir, dass auch wir Perfektion niemals erreichen werden. Trotzdem hecheln wir dem Mythos hinterher; noch sind wir jung und hoffen, die einzige Ausnahme zu sein.
Wie sehr stört es mich wirklich, meine Mutter in mir wiederzuerkennen? Viele dieser Eigenschaften machen mein Leben leichter (praktische Kleidung). Manchmal lache ich darüber, dass ich heute tue, was meinem 14-jährigen Ich Albträume bereitet hätte (ungeschminkt zum Vorstellungsgespräch gehen). Ist meine erste negative Reaktion auf diese Verwandlung bloß gesellschaftlich konditioniert? Die Liste unserer Unterschiede ist viel länger als die unserer Gemeinsamkeiten, warum konzentriere ich mich nicht darauf?
Dass der Einfluss unserer Eltern nicht mit dem Auszug von zu Hause endet, ist plausibel: Wir teilen 50% ihrer Gene und wenn sie uns aufgezogen haben, haben wir Jahrzehnte mit ihnen verbracht. Nichts davon verpufft, wenn wir 500 Kilometer dazwischen packen, Überraschung! Wenn wir positive Kindheitserinnerungen und ein gutes Verhältnis zu ihnen haben, gibt es wenig Gründe für absichtliche Abgenzung. Dass dieser Einfluss erst lange nach dem Auszug überdeutlich wurde, liegt wohl daran, dass ich erst die anderen Varianten ausprobieren musste. Und als ich noch bei ihnen lebte, konnte ich ja nichts wegräumen, weil Mama das schon erledigt hatte …
Einfluss an sich ist zunächst einmal neutral. In meinem Fall sind seine Symptome ungefährlich – wer ungeschminkt in einer aufgeräumten Wohnung sitzt, hat selten bleibende Schäden davongetragen. Ist dieser Einfluss doch schädlich, liegt das an der konkreten Eigenschaft. Dann ist jedoch diese Eigenschaft das Problem, egal woher sie kommt. Wenn wir uns in unsere Mütter verwandeln, ist das unproblematisch, solange wir anderen und uns selbst damit nicht schaden.
In diesem Sinne: Auf Mama! *Stößt mit Getränk eurer Wahl an*
PS: Mutterlose Kinder, die dieses Luxusproblem gern hätten: I see you.
#44: Das Gespenst der eigenen Mutter
An die Kajalexzesse der 00er-Jahre erinnere ich mich auch noch :D
Ich erwische mich bei ähnlichen Gedankengängen; es ist krass, dass so sehr auf das Geschlecht gepocht wird. Viel interessanter ist doch, wie sich Verhaltensweisen, Ansichten und ja eben auch Traumata über Generationen transportieren und einen gesellschaftlichen Kontext haben. Es immer auf "die Mutter" zu schieben ist irgendwie eine Individualisierung von viel komplexeren Dingen!